[187] Die Geschichte der Chinesischen Bahnen zerfällt in vier Perioden: Die erste von 1863 bis 1878 ist die Zeit vergeblicher Gesuche Fremder um Baukonzessionen; die zweite von 1878 bis 1894 ist die eigentliche Periode der Einführung der Eisenbahnen und zeichnet sich dadurch aus, daß China aus eigener Kraft Bahnen zu bauen versucht. Die dritte Periode, von 1894 bis 1900, die Zeit der Konzessionserteilungen an die Fremden, ist bei weitem die bedeutendste; in ihr spielen sich heftige Kämpfe um Konzessionen zwischen den Unternehmern und der Regierung ab. Auch die europäischen Großmächte interessieren sich für die Frage. Sie unterstützen die Unternehmer in jeder Hinsicht und machen sich alle günstigen Umstände zunutze, um Konzessionserteilungen zu erwirken. Diese Periode schließt mit einer Reihe von Konzessionserteilungen, die alle um das Jahr 1898 herum verliehen worden sind. Die vierte Periode ist gekennzeichnet durch das Bestreben Chinas, Bahnen selbst zu bauen und von Fremden gebaute in eigene Verwaltung zu bringen. In den letzten Jahren hat sich das Bild noch mehr geändert, denn China begnügte sich nicht mehr damit, die Eisenbahnen an sich zu bringen, sondern tat auch sein möglichstes, um allein Herr im Lande zu bleiben, indem es energisch jede neue Konzession verweigerte und in seinen Unternehmungen die Europäer durch Eingeborene ersetzte.
Der älteste Schienenweg war eine Bahn von Wusung, einem Ort an der Küste, wo die großen Dampfer, die bis Schanghai nicht hinauffahren können, liegen bleiben, nach Schanghai. Eine Gesellschaft unter Führung englischer Firmen erbat eine Konzession zum Bau einer »Wagenstraße«, die ihr bewilligt wurde. In Eile und Heimlichkeit wurde statt einer Straße eine Eisenbahn gebaut. Sie wurde am 30. Juni 1876 eröffnet und erfreute sich bald eines überraschenden Zuspruchs. Aber der Zorn der getäuschten Behörden war groß, und als gar ein Kuli von der Bahn überfahren wurde, erhoben sie nachdrücklichen Protest in Peking. Der englische Gesandte mußte sich fügen und nach Verlauf eines Jahres, in dem die chinesische Regierung selbst den Betrieb erfolgreich geleitet hatte, wurde die etwa 17 km lange Bahn aus der Erde gerissen und nach Formosa verschifft, wo das Material großenteils zu gründe gegangen ist.
Der nächste Versuch der Einführung der Eisenbahn stammt aus dem Jahre 1878; damals erkannte der Verwalter der Steinkohlenbergwerke von Kaiping, Li-Hung-Tschang, die Notwendigkeit der Eisenbahn für den Transport der Steinkohle; er machte Schritte bei der Regierung, um die Erlaubnis zum Bau einer Bahn zu erhalten, die sein Bergwerk mit dem nächstliegenden Hafen am Pehtang verbinden sollte. Im Jahre 1880 wurde ihm diese Linie unter der Bedingung genehmigt, daß die Zugförderung durch Maultiere erfolgen sollte. Am 9. Juni 1881 wurde diese Beförderungsart beseitigt und, ungeachtet eines heftigen Einspruchs von Peking aus, der Dampfbetrieb eingeführt.
Diese erste Eisenbahn berechtigte ihre Erbauer zu großen Hoffnungen und ermutigte zur Ausführung weiterer Bahnen.
Zunächst richtete Li-Hung-Tschang in Gemeinschaft mit Tschang-Tschih-Tung sein Augenmerk auf die Strecke Peking-Hankau, und es gelang ihm, durch den Vertrag vom Juni 1897 die Konzession für ein französisch-belgisches Syndikat zu erhalten.
Rußland erhielt für die guten Dienste, die es China geleistet hatte, als es der Annexion der Mandschurei durch Japan widersprach, in den Jahren 1896 und 1898 die Konzession für die transmandschurische und für die südmandschurische Eisenbahn, so daß Transsibirien mit Wladiwostok einerseits und Port Arthur anderseits verbunden werden konnte.
Um dieselbe Zeit erhielt Herr Luzzatti für das Peking-Syndikat die wichtige Minenkonzession von Schansi und Honan; damit war zugleich auch die Ermächtigung verbunden, überall, wo es für die Beförderung der Kohle notwendig sein sollte, Bahnen zu bauen.
Deutschland blieb nicht untätig und zog geschickt Nutzen aus der Ermordung zweier Missionäre; durch den Vertrag vom 6. März 1898, der ihm auch sonst noch viele Vorteile bot, erhielt es mehrere Minen- und Eisenbahnkonzessionen in Schantung.
Frankreich wurde im Jahre 1898 die Linie von Schansi genehmigt, die eine große Zukunft hatte, da sie ein bedeutendes Kohlenbecken durchscheiden mußte und erforderlichenfalls bis zur Hauptstadt von Schansi verlängert werden konnte.
Die Chinesen selbst machten den Ausländern Konkurrenz, und noch in demselben Jahre (1898) wurden die Konzessionen von Schanghai-Nanking und von Tientsin-Yangtse (dem heutigen Tientsin-Pukou) an zwei Chinesen vergeben, während die chinesischen Bergwerksbesitzer von Hanyang die Erlaubnis erhielten, die Linie von Tschutschou nach Pinghsiang[188] zur Beförderung der Steinkohle aus den Bergwerken von Anyuen zu bauen.
Die meisten Unternehmer erhielten Unterstützungen von der Regierung, deren Höhe sich nach der Länge der Linie und der Schwierigkeit der Bauarbeiten richtete. China nahm eine 5%ige Anleihe auf und bot als Sicherheit die Einnahmen aus den von den Bahnen durchschnittenen Provinzen. Das Unternehmersyndikat brauchte die Wertpapiere bloß durch seine Banken (Russisch-Chinesische Diskontogesellschaft, Hongkong & Shanghai Banking Corporation) begeben zu lassen.
Nur die Eisenbahnen Ostchinas, die der Südmandschurei, Antung-Mukden und die Linien in Schantung wurden von den Unternehmern auf eigene Gefahr gebaut.
Die Arbeiten wurden bald nach dem Jahre 1898 auf allen konzessionierten Linien begonnen, mit Ausnahme der Linie Tientsin-Yangtse und Schanghai-Nanking, deren Bau eine beträchtliche Verzögerung erlitt, weil die Anleiheverträge erst mehrere Jahre später unterzeichnet wurden.
Die Wirren von 1900 hatten einen Stillstand der Arbeiten auf fast allen Linien zur Folge; ihre Inbetriebnahme wurde daher um ungefähr ein Jahr verzögert.
Seither gehen die, den verschiedenen Syndikaten konzessionierten Linien ihrer Vollendung entgegen, mit Ausnahme der Linie Tientsin-Yangtse, die vor Ablauf von mehreren Jahren nicht fertiggestellt sein wird. Auch mehrere neue Konzessionen wurden verliehen, so jene für eine nach Ost und West sich erstreckende Seitenlinie der Peinlobahn, von Antung-Mukden und von Peking-Kalgan; die erste wurde im Jahre 1904 einer belgischen Gesellschaft (Société belge de construction de chemins de fer et de tramways en Chine) erteilt; bezüglich der zweiten waren China zufolge des Übereinkommens vom Dezember 1905 die Hände durch Japan gebunden, das nach diesem Übereinkommen das Recht erhielt, die Bahn von Antung nach Mukden zu bauen (eröffnet 1908). Was Peking-Kalgan anbelangt, so ist dies ein rein chinesisches Unternehmen, das wegen seiner geographischen Lage – die Linie wird früher oder später Peking mit Transsibirien verbinden – von großer Bedeutung ist. In Ansehung der beiden Linien Tientsin-Pukou und Schanghai-Nanking, deren Konzessionserteilung sich in die Länge zog, ist als Besonderheit hervorzuheben, daß das Syndikat, anstatt ausschließlich von Europäern geleitet zu werden, wie es bei den anderen im Jahre 1898 konzessionierten Linien der Fall war, zur Ausführung der Anleiheverträge eine chinesische Generaldirektion zur Seite hat; sodann ist den Europäern auch eine beträchtliche Anzahl Chinesen zugeteilt, die mit der finanziellen oder technischen Leitung des Unternehmens betraut sind.
Nachstehend folgt eine Übersicht über den Stand der Bahnen im Frühjahr 1912 sowie eine Zusammenstellung (S. 189) der wichtigeren Bahnnetze, aus der die Nationalität der Konzessionsinhaber zu ersehen ist: